
Die Begriffe Bewusstsein und Gewahrsein werden oft als Synonyme betrachtet. Das ist sprachlich falsch, weil diese beiden Wörter unterschiedliche Bedeutungen haben. Sucht man nach Definitionen dieser beiden Begriffe, findet man nur vage Beschreibungen, die andere, ebenfalls vage Begriffe verwenden oder sogar im Kreis laufen und daher entweder nichts aussagen oder viel Spielraum für Interpretationen lassen.
Im Folgenden erforsche ich, wie wir Erfahrungen machen. Das gibt dir einen Einblick in die Funktionsweise deines Geistes und zeigt die sinnrichtige Verwendung der Begriffe Bewusstsein und Gewahrsein.
Was nimmst du in diesem Moment wahr? Vielleicht siehst du etwas. Vielleicht hörst du etwas. Du erfährst deine Umgebung durch deine äußeren Sinne. Außerdem nimmst du durch deine inneren Sinne Körperzustände wahr wie zB Wärme, Anspannung oder Schmerz. Du hast gelernt, diese Wahrnehmungen und damit deinen Körper und deine Umgebung als real zu erachten. Gefühle sind dasselbe wie Wahrnehmungen, denn das Wort fühlen kommt vom altenglischen Wort felan, das ‚wahrnehmen‘ bedeutet. Meist wird der Begriff Wahrnehmung für das verwendet, was von den äußeren Sinnen kommt, und das Wort Gefühl für das, was die inneren Sinne liefern. Mehr über Gefühle bzw Wahrnehmungen findest du in meinem Artikel „Gefühle sind nicht dasselbe wie Emotionen“.
Was ist noch in diesem Moment „in“ dir? Deine Gedanken. Gedanken sind nicht real. Sie sind eingebildet, dh imaginär. Deine gegenwärtige Erfahrung hat also zwei Teile: einen realen und einen imaginären. Wahrnehmungen bzw Gefühle sind real, Gedanken sind imaginär. Mehr über Gedanken findest du in meinem Artikel „Das ist der Unterschied zwischen Menschen und Tieren“.
Betrachte ein Objekt. Dann schließe deine Augen und denke an das Objekt, das du zuvor gesehen hast. Indem du dich erinnerst, erzeugst du einen Gedanken, also ein imaginäres Bild. Dieses Bild kann mehr oder weniger klar, mehr oder weniger detailliert sein, je nach Vorstellungskraft und Erinnerungsvermögen.
Höre auf etwas, zB ein Lied oder Vogelgezwitscher. Dann denke an das, was du gerade gehört hast. Der erinnerte Klang kann mehr oder weniger klar, mehr oder weniger detailliert sein, je nach Vorstellungskraft und Erinnerungsvermögen.
Wenn du etwas hörst, ist der Klang real. Wenn du dich an das Gehörte erinnerst, ist es imaginär. Wenn du deine Augen öffnest, ist das, was du siehst, real. Wenn du deine Augen schließt und dich erinnerst, ist es imaginär.
Was ist der Unterschied zwischen real und imaginär? Du sagst vielleicht „Klarheit“; doch die Klarheit eines imaginierten Bildes hängt von deiner Vorstellungskraft und deinem Erinnerungsvermögen ab; beides ist eine Frage von Talent und Training; zB gibt es Menschen mit einem fotografischen Gedächtnis. Klarheit ist kein Unterscheidungsmerkmal.
Was siehst Du in diesem Bild?
Du siehst wahrscheinlich einen Würfel, also ein dreidimensionales Objekt. Aber das ist eine Täuschung, denn das Bild ist klarerweise nur zweidimensional; es ist eine Konfiguration von zwölf Geradensegmenten, die einen Würfel suggeriert. Tatsächlich suggeriert das Bild sogar zwei Versionen eines Würfels, eine mit dem unteren linken Quadrat als Vorderseite und eine mit dem oberen rechten Quadrat als Vorderseite.
Dieses Bild hat also eine reale Version (zwölf Geradensegmente) und zwei imaginäre Versionen (erster Würfel, zweiter Würfel). Du kannst mehr oder weniger leicht wählen, welche Version du siehst. Für die meisten Menschen ist es am schwierigsten, die Wahrheit der zwölf Geradensegmente zu sehen.
Wenn du einen Würfel siehst, siehst du ein imaginäres Bild – obwohl es eine Wahrnehmung mit den Augen ist und nicht ein Gedanke, also sollte es doch ein reales Bild sein. Daher noch einmal gefragt: Was ist real und was ist imaginär? Optische Täuschungen zeigen, dass real und imaginär ineinander übergehen können. Daher vereinheitlichen wir sie mit dem Begriff ‘wissen’.
Das Wort wissen hat die Wurzel *weid-, welche ‚sehen‘ bedeutet. Daher kann dieser Begriff sinnrichtig für jede Art des Sehens verwendet werden; für das Sehen von etwas Realem ebenso wie für das Sehen des Imaginären – und es kann auf alle Wahrnehmungen verallgemeinert werden, also zB auch das Hören. Deine elementarste Erfahrung ist, zu wissen … und tatsächlich ist es deine einzige Erfahrung. Dein gegenwärtiges Wissen besteht aus deinen Wahrnehmungen bzw Gefühlen und deinen Gedanken – zumindest in erster Näherung, es gibt noch zwei weitere Arten von Wissen, die wir später erwähnen.
Stell dir zur Veranschaulichung vor, dein Geist hat einen Wissens-„Bildschirm“. Dieser Wissensschirm enthält, was du jetzt weißt; er hat zwei Fenster: ein Wahrnehmungsfenster für die Wahrnehmungen bzw Gefühle und ein Denkfenster für die Gedanken.
In jedem Moment ersetzt ein neues gegenwärtiges Wissen dein gegenwärtiges Wissen, das dann zu einem vergangenen Wissen wird. Stell dir vor, wie jedes gegenwärtige Wissen ein neues oberstes Blatt in einem Buch ist. Im Verlauf der Zeit entsteht so das Buch deiner Lebensgeschichte; es wird von Moment zu Moment dicker.
Du kannst auf vergangenes Wissen zurückgreifen, indem du im Buch zurückblätterst. Das ist das Erinnern. Erinnern macht ein vergangenes Wissen zu einem gegenwärtigen Wissen.
Wenn du dich erinnerst, blickst du zurück auf deine Geschichte. Dadurch weißt du, dass du eine Geschichte hast. Diese Erfahrung erzeugt das ‚Ich‘. ‚Ich‘ ist die Identifikation mit der eigenen Geschichte.
Das Wort Bewusstsein setzt sich aus der Vorsilbe be- und dem Wort wissen zusammen. Die Vorsilbe be- bedeutet ‚mit etwas ausgestattet sein‘. Bewusstsein bedeutet daher ‚mit Wissen ausgestattet sein‘; damit ist mehr Wissen gemeint als nur das gegenwärtige Wissen. Deine Lebensgeschichte ist eine Sammlung von Wissen. Das Wort Bewusstsein ist also passend dafür gewählt, dass du deine Geschichte kennst bzw auf sie zurückschauen kannst. Die Basis von Bewusstsein ist also die Fähigkeit, sich zu erinnern.
Das Wort Gewahrsein ist eine passende Bezeichnung für den Zustand des Wahrnehmens.
Gewahrsein geschieht im Wahrnehmungsfenster deines Wissensschirms. Bewusstsein geschieht im Denkfenster. Gewahrsein ist jetzt. Bewusstsein beinhaltet die Vergangenheit.
Beobachte dich selbst: Wenn du im Hier und Jetzt bist, zB weil du dich auf eine gegenwärtige Aktivität konzentrierst, bist du reines Gewahrsein. Dabei kann sogar dein ‚Ich‘ verschwinden, also deine Identifikation mit deiner Geschichte. Viele Meditationen zielen darauf ab, dich dorthin zu bringen.
Im Jetzt – und damit in deinem Gewahrsein – gibt es auch noch zwei weitere Arten von Wissen: Vertrautheiten und Intuitionen. Ich beschreibe sie in meinem Artikel „Intuition ist viel mehr als nur ein sechster Sinn“. Für ein tieferes Verständnis deines Geistes lies mein Buch „Bewusstsein – Natur, Zweck, Verwendung“. Dort findest du eine vollständige ‘Theorie des Geistes’.
Die Vorstellung eines Wissensschirms kann dir helfen, ein Beobachter deiner Gedanken zu werden. Das ist die Basis für die Selbsterforschung. Hier sind zwei Übungen zum Anfangen:
Übung 1: Beobachte dein gegenwärtiges Wissen, dh „schaue“ auf deinen Wissensschirm. Was ist im Wahrnehmungsfenster? Was ist im Denkfenster?
Übung 2: Übe, den Fokus zwischen dem Wahrnehmungs- und dem Denkfenster zu wechseln.
Weiterführend:
Artikel „Gefühle sind nicht dasselbe wie Emotionen“
Artikel „Das ist der Unterschied zwischen Menschen und Tieren“
Artikel „Intuition ist viel mehr als nur ein sechster Sinn“
Buch „Bewusstsein – Natur, Zweck, Verwendung“